Warum mein FSJ zwei Leben verändert hat

19. August 2024


„Das eine Jahr hat mein Leben umgekrempelt und mir gezeigt, wie wichtig es ist, den sozialen Bereich zu schützen und zu verbessern.“

– Insa Wischnewski, ehemalige Freiwilligendienstleisterin

Hallo, mein Name ist Insa. Ich bin gerade 18 Jahre alt geworden.
In ein paar Wochen werde ich mein Abitur beenden. Und mein Umfeld fragt mich jeden Tag was aus mir werden wird. Wie toll das Leben sein muss, wenn einem die Welt offensteht. Ich empfinde das nicht so. Wie soll man sich in einer Welt orientieren, in dem es so viel Möglichkeiten gibt? Studiengänge über
Studiengänge, von denen man gerade einmal die Hälfte richtig aussprechen kann. Ich habe mehrere online Tests gemacht, war auf vielen Berufsmessen unterwegs und habe mich sogar bei der Berufsorientierung beraten lassen.
Und trotzdem stehe ich da und habe keine Ahnung, was ich werden möchte.
Und in mir wächst vor allem eins – eine Angst, wie meine Zukunft aussehen wird.
Ich bin 19 und habe mich für ein Freiwilliges Soziales Jahr entschieden.
Eigentlich habe ich das nur gewählt, da ich immer noch keine Orientierung in meinem Leben habe. Ich weiß, dass ich gerne von Menschen umgeben bin und entscheide mich für die Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Ich habe bisher keine Ahnung, wie Menschen mit Behinderungen so sind. Ich habe auch Angst, etwas falsch zu machen. Dass ich vielleicht etwas falsches sage oder unhöflich bin, ohne dass ich es möchte. Aber ich möchte auch etwas Neues kennenlernen und bin gespannt
was mich erwarten wird. Ich ahne noch nicht im Ansatz, wie sehr dieses eine Jahr mein Leben verändern wird.
Ich bin 20 und arbeite seit einem halben Jahr in der Werkstatt. Ich habe gemischte Gefühle. Die Arbeit ist anstrengend, vieles ist neu für mich. Ich merke zum ersten Mal, was es bedeutet im sozialen Bereich tätig zu sein. Wie schwierig es ist, Menschen unter sehr begrenzten Personalstrukturen zu betreuen. Jedem Menschen gerecht zu werden, grenzt fast an eine Unmöglichkeit. Auf der anderen Seite merke ich allerdings auch, wie wichtig die Arbeit ist, die ich tue. Ich bin keine gelernte Fachkraft. Ich kann nur
begrenzt bei der Pflege helfen, keine Hilfeplangespräche führen und weiß in vielen Situationen nicht weiter. Aber ich kann einspringen, wo die Zeit einfach fehlt. Ob ich mit dem Rollstuhlfahrer Matteo* einmal wöchentlich mit Hilfe eines Gehgestells um die Werkstatt laufe, ob ich Lisa* in den Arm nehme, weil sie sich mit ihrem Partner gestritten hat oder einfach da bin, um Jacken anzuziehen oder ein offenes Ohr zu haben. Ich habe Marie* zum sozialen Dienst begleitet, als sie einen sexuellen Übergriff erfahren hat, während ihre Gruppenleitung erkrankt war und nur mir davon erzählt hat. Ich bin mit Nina* ins Krankenhaus gefahren, als niemand anderes seine Gruppe allein lassen konnte. Und ich durfte Timo* kennenlernen. Timo* sitzt im Rollstuhl, ist fast blind und spricht nicht. Er ist dafür bekannt, schnell wütend zu werden. Wenn ihm alle Namen geändert eine Situation nicht passt, fängt er an zu schreien, wirft Gegenstände und verschiebt den Tisch, an dem er sitzt. Seine Gruppenleitung merkt, dass etwas nicht stimmt. Sie betreut eine Gruppe von 12 Menschen. Da fehlt die Zeit sich intensiv mit Timo zu beschäftigen. Doch ich habe die Zeit. Ich verbringe regelmäßig Zeit mit Timo, lerne ihn immer besser kennen und biete ihm verschiedene Dinge an, die er allesamt ablehnt. An einem Donnerstag fällt mir während der Arbeit auf, dass Timo sich jedes Mal interessiert umdreht, wenn ich große Kartons zusammenfalte. Das Geräusch und das Material faszinieren ihn. Ich zeige ihm, wie man die großen Kartons zusammenklebt und im Anschluss die kleinen Kartons in den Großen packt. Nach nur einem Tag ist Timo* wie verändert. Er fährt durch den Gruppenraum, um bei seinen Kolleginnen Kartons zum Einpacken zu finden. Als es in die Pause geht, lässt er sich nur schwer von seiner Arbeit abbringen. Er lächelt. Zwischendurch lacht er sogar laut auf. Er hat eine Arbeit gefunden, die ihn sowohl in die Gruppe einbringt und bei der er das Gefühl hat, etwas Sinnvolles zu tun. Seine Gruppenleitung hat Tränen in den Augen. Ohne eine Person im FSJ/BFD, die die Zeit hat, sich intensiv mit den Menschen zu beschäftigen, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich habe in dem Jahr einiges gelernt. Sowohl was die pädagogische Arbeit angeht als auch über mich selbst. Ich habe zum ersten Mal einen Arbeitsvertrag in der Hand, musste mein erstes Bewerbungsgespräch führen. Ich nehme an Seminaren teil und kann mich mit den anderen FSJlerinnen austauschen. Und auch mit der Seminarleitung, die mir einige entscheidende Impulse geben.
Jetzt bin ich 23 Jahre alt. Ich schreibe gerade an den letzten Seiten meiner Bachelorarbeit. Ich bin Sozialarbeiterin geworden und möchte ich mich durch meine Arbeit sowohl für die individuellen Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzen als auch die Politik zu mehr Inklusion bewegen. Das eine Jahr hat mein Leben umgekrempelt. Ich habe mich nicht nur das erste Mal mit Menschen auseinandergesetzt, von denen ich immer dachte, dass sie ganz anders sind als ich. Ich habe auch meine Berufung gefunden. Ein Beruf, für den ich brenne und bei dem meine Augen leuchten, wenn ich davon erzähle. Ich weiß auch, dass es herausfordernd werden wird. Dass Personalmangel, Stress und eher schlechte Entlohnung bald mein Alltag sein werden. Daher ist es wichtig den sozialen Bereich zu schützen und jeden Tag zu verbessern. Sowohl durch die Fachkräfte als auch besonders durch die Politik. Die Unterstützung von FSJs/BFDs wäre aus meinen Augen ein unumgänglicher Schritt. In keiner anderen Position hat man die Möglichkeit, so intensiv in den sozialen Bereich zu schauen. Es werden nachfolgende
Fachkräfte angeworben, so wie ich eine bin. Es bleibt auch die Arbeit, die man geleistet hat, die das Leben eines Menschen komplett verändern kann.
Und sollte man sich im Anschluss doch nicht für einen sozialen Bereich *alle Namen geändert entscheiden, bleibt außerdem noch die Erfahrung mit Menschen, zu denen man kaum Berührungspunkte hat. Ein wichtiger Schritt zu einer inklusiveren Gesellschaft, da Inklusion auch bedeutet, dass die Gesellschaft sich verändern muss. Wer am sozialen Bereich kürzt, kürzt auch das Potenzial, das wir als Gemeinschaft haben.

*alle Namen geändert